Gemeindeleben online

Unterwegs in Frankfurt

In dieser Reihe stellen wir Positionen und Ereignisse aus und in Frankfurt vor und beleuchten sie (auch) aus christlicher, aus protestantischer Perspektive. Es geht nicht um erschöpfende Abhandlungen, sondern darum, Interesse zu wecken und einzelne, bewusst subjektiv ausgewählte Aspekte herauszustellen.

 

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Folge 1 • Maria Stuart
am Schauspiel Frankfurt (Spieljahr 2011)

Schillers Trauerspiel um die schottische Königin, die gegenüber Elisabeth I. von England, von der sie gefangen gehalten wird, unbeugsam ihren Willen bekundet, den englischen Thron einnehmen zu wollen, und damit schließlich auf dem Schafott endet, ist ein großer und schwieriger Stoff.

Es geht um Gewissensfreiheit, die Logik der Macht und auch um einen konfessionellen Konflikt: Elisabeth ist Protestantin und eine Verteidigerin ihres in England bedrohten, noch jungen Glaubens, Maria wird als Katholikin gezeichnet. Der Regisseur Michael Thalheimer hat das Personal und die Nebenhandlungen konsequent reduziert und ein gut 2-stündiges psychologisches Drama geschaffen, das unter die Haut geht.

Schon das Bühnenbild - eine riesige, sich verschiebende schwarze Wand und ein oben quer über die Bühne laufender schwarzer Balken - lässt einen unwillkürlich an ein Schafott denken. Die sich langsam drehende, bedrohlich große Wand scheint direkt aus einem Alptraum oder aus einer Erzählung Edgar Allan Poes zu stammen. Mal riesenhaft, mal klein, werfen die Menschen an diese Wand ihre Schatten, ihre Gesten werden vergrößert und verstärkt – aber nichts ist von Dauer, alles schwankt und jeder Ausgang geht ins Ungewisse.

Mehr gibt es nicht: die Wand macht die Räume eng und weit, die Personen kommen aus der Dunkelheit, vorne leuchten beinahe die gesamte Zeit über die beiden antagonistischen Frauen in ihren farbigen Kostümen. Wenn Maria und ihr junger Held Mortimer tot sind, endet der Alptraum für die lebenden Protagonisten noch lange nicht. Fast erscheint es einem, als sei Maria die in Wahrheit (durch den Tod) erlöste, wogegen Elisabeth und ihr verängstigter, in die Ecke gedrängter Hofstaat bei lebendigem Leibe und in ihrem Leibe verdammt sind.Elizabeth I von N. HillardVielleicht deutet die Betonung der Leiblichkeit, die sich bei Elisabeth in manchen Gesten bahnbricht, auch in diese Richtung. Der Eindruck der Erlösung auf Seiten der Maria Stuart stellt sich vor allem durch eine geschickt gestaltete Szene ein, in der sie – in Abwandlung der Vorlage – sich selber die Beichte abnimmt und sich auch selber das Abendmahl reicht. Zwar spricht Maria den Part des Priesters mit verstellter Stimme, aber sie ist eben doch alleine in ihrer Zelle. Standhaft und ungebrochen erscheint sie, in ihrer schwersten Stunde findet sie Segen und Gnade. Maria kann mit fester Stimme beten und ungerührt ihrem Tod entgegensehen. Ihren größten Fehler hat sie da schon begangen: ihren Hass und ihren Zorn, ihre Kränkung und das erfahrenen Unrecht hat sie ihrer Peinigerin Elisabeth ins Gesicht geschrien (in Frankfurt geschieht das ganz buchstäblich) und zugleich ihre körperliche und emotionale Überlegenheit, die Schönheit ihres Körpers und ihrer Seele (die "schöne Seele" war einer der Leitbegriffe Schillers), ausgespielt. Aber ihre Unbeugsamkeit und ihr ehrlicher Zorn sprechen unbedingt für sie.

Elisabeth hingegen sieht sich vor eine Gewissensentscheidung gestellt. Aber nicht frei wird sie dadurch, sondern unsicher und unehrlich. Ihr moralisches Urteil versagt unter dem Andrang der sich widersprechenden Ratschläge ihrer Lords. Schiller und MaintowerSie kann sich zu keiner Klarheit in irgendeiner Richtung (Vollstreckung des Todesurteils oder Begnadigung) durchringen – weder aus Staatsräson auf der einen noch aus Humanität oder Mitleid auf der anderen Seite. Das (protestantische) Prinzip der Autonomie, der Selbst-Gesetzgebung, wird zur Absurdität, es zerschellt vor dem echten Konflikt, der durch Abwägung (Deliberation) nicht lösbar ist – oder anders gewendet: der nur durch eine reine Entscheidung (Dezision) bewältigt und beendet werden kann. Dass Elisabeth ihren freien Willen am Ende an einen Diener delegieren möchte (der Betrug geht freilich bei Hofe nicht durch), macht diesen Sachverhalt nur um so deutlicher.

Was bleibt also von dem konfessionellen Konflikt, den Schiller, der Protestant und Leser Kants, in sein Drama eingeschrieben hat? Auf der Frankfurter Bühne scheinen jedenfalls beide Positionen zu scheitern. Maria stirbt zwar als Gläubige, aber sie stirbt eben. Und das weil – wie sie selber annimmt – sie im entscheidenden Moment eitel und unbeherrscht war. Elisabeth lebt, aber sie bleibt zurück in einer eisigen, schattenhaften Welt, die aus einer notwendigen Entscheidung einen kalten Mord hat werden lassen. Hier wie dort ist der Mensch auf sich selbst gestellt, kein Priester hilft der Maria im Kerker, kein Rat kann Elisabeths Gewissen ersetzen; am Ende verlassen die Ratgeber die einsame Königin. Im zynischen Spiel der Macht gibt es keine Gewinner, nur Tote – mit lebendigen oder toten Leibern.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 2 • Wenn, dann: was wir tun, wie und warum, Stück von Roland Schimmelpfennig am Schauspiel Frankfurt (Kammerspiele)

Dieses abendfüllende, neue Theaterstück des bekannten deutschen Autors Roland Schimmelpfennig (Regie: Christoph Mehler) handelt auf der ersten Ebene von vier Bauarbeitern, die Baumängel in einem eben renovierten Altbau beseitigen sollen. Besonders beschäftigt sie eine Wand, die durch den Pfusch bei einer Wasserleitung gelitten hat.

Schauspiel FrankfurtDas ist beinahe die Rahmenhandlung zu nennen, die mehr oder weniger vor dem Beginn des Stückes spielt. Als das Stück beginnt, geht es um ein ganz frisches Loch in der Wand, eine Art Durchbruch, der immer wieder geflickt und verputzt werden muss, denn das Loch in Wand kommt nicht zur Ruhe. Und es kommt nicht zur Ruhe – und hier hebt die zweite Ebene der Handlung an, auf es naturgemäß vor allem ankommt – weil die vier Arbeiter viel zu sehr mit ihrem eigenen Alltag beschäftigt sind. Dieser Alltag ist der eigentliche Anlass für das Loch in der Wand, und so lange der Alltag nicht wieder in sich ruht, so könnte man verkürzt sagen, so lange wird der "Durchbruch" in ein völlig anderes Leben nötig sein (und sich eben immer wieder öffnen).

Aber der Reihe nach: Alle vier Personen sind mit den Paradoxien, den unlösbaren Absurditäten des Alltags beschäftigt, und sie hadern mit ihnen. Einer der vier Arbeiter, der in den Erzählungen von den morgendlichen Busfahrten zur Baustelle als poetisch veranlagt und offenbar empfänglich für das Zwischenreich der Träume beschrieben wird, hat das offenbar nicht mehr ausgehalten und wollte den besagten Durchbruch schaffen. Da wäre mal einer gewesen, behauptete er – man könnte übersetzen: das Leben war doch früher anders, besser, sinnvoller, überhaupt sinnvoll. Er wollte also buchstäblich mit seinem leeren, trostlosen und unglücklichen Kopf durch die Wand –und ist darin verschwunden.

Sein Verschwinden ist die eine Paradoxie, an der die drei zurückgelassenen Kameraden herumlaborieren – mit ihrem Werkzeug und mit ihren Gedanken. Eine andere Paradoxie betrifft die Tatsache, dass es sich für manche Arbeitskollegen zu lohnen scheint, aus Cottbus in den Taunus zu reisen ("Wann fahren die denn morgens los?!") – und dass das tatsächlich eine Paradoxie ist, wird im Laufe des Stückes noch auf schreckliche Weise klar. Der jüngste Arbeiter schließlich rätselt über die Tatsache, dass er ausgerechnet drei Tage nach seiner eigenen Hochzeit die Frau seines Lebens (wieder) getroffen hat, die er aber, wenn er nicht geheiratet hätte, auch nie kennengelernt hätte – eine in der Tat unbefriedigende Geschichte, die keine "gute" Lösung kennt.

Alle drei stellen daneben viele Fragen, die in Sachen Rettung des Planeten gerade "en vogue" sind, aber die Fragen nach dem menschlichen Zusammenleben kommen ihnen nur schwer in den Sinn. Sie scheinen geradezu lustvoll aneinander vorbei zu reden, auch wenn alle ihre Geschichten miteinander verwoben sind.

Das Laborieren an den Paradoxien der Welt und des Alltags hat ein Ende, als die Paradoxie schlechthin zu ihnen kommt. Der verloren geglaubte, plötzlich verschwundene Kollege kommt – als Mensch schlechthin, der seine "Maske" auf der Bühne erst anlegen muss – zu ihnen zurück, und er erzählt eine Geschichte, die nun wirklich das Unterste zu oberst kehrt. Er war in einer Welt des Zaubers und der Feen, in der Zwischenwelt der Böden, Decken und Wände. Eine in sich noch einmal paradoxe Feenwelt, so gar nicht märchenhaft, sondern geprägt von Gewalt und Hass, von buchstäblicher Menschenverachtung: eine Gegenwelt in der Gegenwelt. Das sofortige Abreagieren und Ausagieren von Affekten, das er von dort mitgebracht hat, kann der wiedergekehrte Kollege dann auch nur schwer ablegen.

Dieser vollständig paradoxe und lustvoll gewaltsame Auftritt nun wirkt so authentisch, dass ihm alle seine Geschichte glauben. Und mehr noch: Die Konfrontation mit der Paradoxie selbst (so eine Art verneinender Geist in Person des vierten Kollegen) hat eine befreiende Wirkung, die Paradoxien des Alltags lösen sich auf. Das schlechthin Andere, Verrückte, Unzeitgemäße lässt die vier Arbeiter ihre menschliche Verbindung wieder erkennen und wieder aufnehmen. Es lebt eine tiefe Freundschaft und Menschlichkeit auf, die zuvor verschüttet war. Einer ging für alle durch die Hölle und lernte dort, was Leben heißt. Und das Beste daran: er kommt wieder und erzählt davon (eine Geschichte, die also gut in die Osterzeit passt). Die Freude, die er damit auslöst, ist echt.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 3 • Sucker Punch, Film von Zack Snyder (Metropolis, Berger), FSK 16

Eins vorneweg: dies ist ein Actionfilm der härteren Spielart. Dieser Film wird hier – wie in dieser Rubrik üblich – weder empfohlen noch von ihm abgeraten. Aber er stellt Fragen und enthält Aspekte, die bemerkenswert sind – und er hält eine überraschende Antwort parat.

KinokarteSucker Punch (was hier mit "Überraschungsschlag" übersetzt werden soll) ist ein Adoleszenzdrama, eine Satire auf Actionfilme und Fantasyfilme des Typs "Herr der Ringe", er stellt archetypische Kinokonstellationen gleich in Serie nach und er handelt auch vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Die virtuos und bruchlos inszenierte Vertauschung der Sinnebenen – die Nervenklinik, in der die Protagonistinnen einsitzen, ist in jeder Einzelheit mit einem Bordell identisch (in einer analogen Surrealität heißt eine Dunkelhaarige ausgerechnet "Blondie") – bringt eine surreale, bewusst überzeichnende Komponente ein, noch verstärkt durch den harten Kontrast zwischen dem ‚kindlichen' Aussehen und den nicht eben sehr kindlichen Taten der Mädchen. (Aber auch das hat seinen Sinn, denn die Figuren versuchen je gerade den Traumata ihrer Kindheit zu entkommen.) – Zum Inhalt: Ein Mädchen wird in ein Irrenhaus mit korrupten Wärtern verschleppt und es gelingt ihm mit Hilfe einer Mädchengang sich zu befreien. Ihre Hauptwaffen sind – neben ihrem Mut, der in einem bewussten Gegensatz zu ihrem Aussehen steht – ihre Fähigkeit, mit ihrem Tanz sich und andere zu bezaubern. Das geht so weit, dass sie in völlig überladene Phantasiewelten abtaucht, wenn sie tanzt. Mehr soll aber nicht verraten werden.

Von Anfang an herrschen in diesem Film völlige Trost- und Ausweglosigkeit, nicht nur in der labyrinthischen ‚Heilanstalt'. In einer radikal gottlosen Welt, auf die Spitze getrieben noch in den Phantasiewelten der Hauptfigur, scheint es aber doch einen Plan zu geben. Ein alter Mann, mild und weise, offenbar allwissend und im ärgsten Chaos noch gelassen, dabei melancholisch, aber nicht ohne Hoffnung – er hat den Plan, er kennt die Lösung, die das junge Mädchen gleichwohl selber sich erarbeiten muss. – Die melancholische Verkörperung des guten Prinzips, kurz: eine gottähnliche Figur. Die Phantasiewelten treiben die subjektiven Alpträume aller Menschen und die kollektiven Traumatisierungen ganzer Völker auf die Spitze: Krieg, totaler Krieg (im Gewand des Ersten Weltkriegs), Monstren und Aliens, technoide Killermaschinen – man sieht schon, dieser Film ist nichts für schwache Nerven. Diese Phantasiewelten sind, und das fällt einem erst spät auf, völlig menschenleer. Auch unsere Heldinnen sind letztlich nur Ausgeburten ‚der' Phantasie, oder besser: unserer Phantasie. Offiziell agieren sie zwar die für das Erwachsenwerden der Protagonistinnen notwendigen Allmachtsphantasien aus, sind sie Verkörperungen von phantastischen, superpotenten Ichs (die im Übrigen alles kurz und klein schlagen). Aber sie agieren in Wahrheit für uns im Publikum, sie besiegen – ungemein suggestiv – genau diejenigen Momente, in denen wir feige sind, zurückstecken, sie besiegen das Allzumenschliche, Halbe, Unechte in uns. – Im Kinosaal löst sich der tiefen-psychische Druck, den solche Bilder erzeugen, in unwillkürlichem Gelächter.

Der Film enthält eine große Hoffnung. Der "Gott", den er beschreibt (wenn man diese altväterliche Figur so nennen darf), er ist da und er bleibt da bis zum Schluss. Melancholisch und ohne viele Worte hilft er dem Mädchen noch einmal ganz am Ende der Story zur Freiheit. Und auch auf einer weiteren Ebene ist er eine tröstliche Figur, auf einer Ebene nämlich, die den gesamten Film umgreift. Wenn die Beobachtung stimmt, dass es sich um radikal gottlose Welten handelt (und wer einmal eine solche Welt sehen will, wer sie wirklich und sozusagen ganz ohne Metaphorik sehen will, wer Lust am Schauen, Lust am Kino hat, dem sei dieser Film dann doch empfohlen), so ist es eben so, dass Gott auch in einer solchen Welt da ist und das Leben lenkt, ohne den Menschen zu entmündigen. "Wer ist es, der unser Leben leitet?", fragt die Hauptfigur, und gibt die Antwort: "Du bist es, du hast alle Werkzeuge in Deiner Hand – gebrauche sie".

Am Ende ist das Mädchen, ist die Welt erlöst. Und das – interessant genug – ohne stereotypen Kitsch und ohne jede Schönfärberei: auch die Welt der Freiheit nämlich sieht aus wie eine Welt im Krieg. Dunkle, rot beleuchtete Wolken, Dunst und fahles Sonnenlicht, Menschen, die auf der Flucht zu sein scheinen, aggressive Ordnungshüter – und ein melancholischer "Gott". "Und eins noch:", sagt er, wie zuvor vor jedem Einsatz der Mädchentruppe, "Wir haben eine weite Reise vor uns." – Die Autonomie, sie ist nicht ohne Anstrengung zu haben, die Freiheit, die man haben kann, sie will erarbeitet sein.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 4 • Der i-Kosmos. Macht, Mythos und Magie einer Marke. (Museum für angewandte Kunst, MAK) noch bis 12. Juni 2011

Das Frankfurter Museum widmet sich ausführlich dem angewandten Design in allen Varianten. Und so wurde es höchste Zeit, dass professionelle Kustoden einmal ein Phänomen beleuchten, von dem es gerne heißt, es sei "überwiegend Design". Es geht um die sogenannten Produktwelten des kalifornischen Computer- und Technologiekonzerns Apple Macintosh.

Virulent ist die Frage eigentlich schon seit den 1980er Jahren, als Apple die ersten, sehr besonderen Heimcomputer, wie man damals wohl sagte, herausbrachte. Doch wurde die gegenwärtige Aufmerksamkeit durch den Musikspieler iPod ausgelöst, der das kaufen, speichern und hören von Musik auf eine neue Grundlage stellte. Man kann dazu stehen wie man will – die Idee, regalfüllende CD-Sammlungen in der Hosentasche aufzubewahren, war und ist genial.

Genial ist wohl auch die Marketing-Maschine zu nennen, die im Umfeld dieser technischen Produkte abläuft. Die Produktpräsentationen des Firmenchefs genießen Kultcharakter. In einer Inszenierung aus Licht und Schatten, die mit starken Kontrasten spielt, und in einer lässigen, überlegenen Pose werden die Neuigkeiten jeweils als Durchbrüche und Quasi-Revolutionen präsentiert. Hat man sich früher noch als David (Apple) gegen Goliath (Microsoft) präsentiert (sehr schöne Beispiele in der Ausstellung), so wird in den vergangenen Jahren eine Ära der innovativen Unantastbarkeit entwickelt.

Gegenüber allen Versuchen, die Inszenierung rund um die Produkte – ob kritisch oder bewundernd und bestätigend – als eine Art von "Kult" zu bezeichnen, gestaltet sich die Frankfurter Schau angenehm nüchtern. Es ist eben doch zu einem guten Teil ein "Hochschreiben" der Apple-Welt, wenn man ihr einen geradezu ersatzreligiösen Charakter unterstellt. Sieht man alles im Einzelnen in den Vitrinen eines Museums liegen, so zeigt sich vielmehr die konsequente Weiter- und Fortentwicklung von im Grunde einfachen Ideen der praktischen Gestaltung von Büro- und – in den letzten Jahren das Bild des Unternehmens prägend – Unterhaltungselektronik. Man kann im MAK auch tiefer eindringen und z. B. feststellen, dass sich Apple besonders um die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine gekümmert hat. Die erfreulich einfache Bedienung von Musikspieler und Computer gleichermaßen – sie ist offenbar das Resultat von viel Hirnschmalz und Einfühlungsvermögen. Denn: Wie ist einfache und intuitive Bedienung ohne Programmierkenntnisse möglich? Wer hat die Maus und das schnelle Zusammenspiel von Klicken und Tippen erfunden? Seit wann erzeugen erschwingliche Computer und ihre Programme auf sozusagen Knopfdruck aus Zahlen Diagramme und Grafiken? – Die Schau am Frankfurter Museumsufer liefert die Antwort.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 5 • Eine Osternacht in Frankfurt

Die denkmalgeschützte Kirche liegt im Norden Frankfurts. Ruhig und dunkel liegen die alten Häuser, viele mit schön renoviertem Fachwerk. Es geht gegen elf Uhr am Abend, der Samstag vor dem Osterfest. Die Treppen hoch zur Kirche, die auf einer kleinen, in vorgeschichtlicher Zeit vom Urselbach gebildeten Anhöhe liegt, werden von Windlichten erleuchtet. Langsam geht es nach oben zum dunklen Eingang der Kirche. Stille, Dunkelheit, Schweigen – als lebendige Erinnerung an die Ereignisse vor über 2000 Jahren in Jerusalem.

Der Kirchenvorstand begrüßt freundlich die Besucher, die um viertel vor elf schon reichlich strömen. Jeder Besucher der Osternacht erhält zusätzlich zum Liedblatt eine Kerze. Bei den nicht wenigen Kindern und Jugendlichen erhöht das durchaus die Vorfreude. Auch der Kirchenraum, in dem man im Halbkreis um Altar und Kanzel versammelt ist, ist abgedunkelt. Nüchtern läutet die Glocke: elf Uhr.

Der Gottesdienst beginnt in völliger Dunkelheit, ohne Gesang und ohne Orgel. Der Altar ist ungeschmückt. Das Evangelium hat das erste, ausführliche Wort. Es sind Worte, die immer noch direkt zu uns sprechen, und nichts lenkt im dunklen Kirchenraum ab. Der gesamte Raum und die dann folgende eindringliche Rede des Pfarrers beschwören geradezu diese Dunkelheit – es ist die Dunkelheit, die um Jesu Jüngerinnen und Jünger war. Die Auferstehung, die das Licht über der Welt wieder aufgehen ließ, sie stand noch bevor. Die Erinnerung an die damalige Dunkelheit erinnert uns an die Dunkelheiten, die wir gegenwärtig um uns herum und in aller Welt antreffen.

Aber das Licht des neuen Lebens, das Licht, das zu Ostern für immer aufgegangen ist, es ist stärker als alle Finsternis. Die Auferstehung hat statt gefunden, kein Betrug, kein Grabraub – dies die schlichte Wahrheit der Testamente. Wenn wir uns heute daran erinnern, wird die Auferstehung erneut wirklich.

Es geht gegen Mitternacht. Eine brennende Kerze, von einer Konfirmandin getragen, kommt von draußen in den Gottesdienst, zusammen mit Altarkreuz, Kerzen und Altarschmuck. Vom Altar wandert das Licht durch die Reihen, bis jede der am Eingang ausgereichten Kerzen brennt. Man kann nur staunen, wie hell es nur durch diese Kerzen wird. Das Osterevangelium wird gesungen vorgetragen, die Orgel setzt ein, die Gemeinde singt: Er ist wahrhaftig auferstanden – es ist wahrhaftig Ostern! Der Übergang von der Nacht der Passion, der Nacht des Todes, zum Tag des Lebens und der Auferstehung – hier ist er geschehen. Das Osterfeuer brennt, geschützt und bewacht von der örtlichen Feuerwehr.

Die Straßen des Heimwegs sind dunkel, die Herzen sind hell. – Ostern in Frankfurt.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 6 • Eine verlorene Seele

Der Mann hat früh den Vater verloren und seine Mutter nie kennen gelernt. Sie ist bei seiner Geburt gestorben. Als adeligem Spross (die Geschichte spielt im Mittelalter) ist ihm ein Leben als "Held" vorgesehen und er erfüllt diese Rolle gut. Doch wo findet er Halt? Wem kann er trauen, er, dem schon früh alle menschlichen, persönlichen Bindungen fehlten? Wie im Traum geht sein Leben dahin, er kann es – buchstäblich – nicht fassen.

Er hat keine Mutter – und sehnt sich Zeit seines Lebens zurück in die Geborgenheit des Kindes, das eng bei seiner Mutter und beinahe körperlich identisch mit ihr ist. In schweren depressiven Phasen übersteigert er diese Sehnsucht in eine Sehnsucht nach einer imaginierten (oder doch tief erinnerten?) vorgeburtlichen Existenz, nach einem Sein im Mutterleib, er sucht den Verlust der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Ichs.

Er hat keinen Vater – und benötigt doch männliche Vorbilder und Leitfiguren. Die ihm mit höherem Alter immer mehr fehlende Rollengewissheit als erwachsener Mann, der er emotional nur schwer werden kann, lässt ihn depressiv, ja todessüchtig werden. Er findet einen Mann, einen König, der ihn an Sohnes Statt annimmt und zu dem er aufschauen kann. Ihm ist er alles zu opfern bereit.

Tristan und Isolde © Oper FrankfurtAls er sich – schwer verletzt, hilflos wie ein Kind – in die Hände einer Frau begibt, um sich von einer Wunde heilen zu lassen, lernt er mütterliche Liebe und Gattenliebe zugleich kennen. Aber er verweigert sich dem reifen sexuellen Impuls, er will nicht erwachsen werden (wenn er es denn überhaupt könnte), und gewinnt – geheilt und genesen – diese Frau nicht für sich, sondern für seinen Ersatz-Vater. – Es kommt zur Katastrophe, denn weder er noch die als "Mutter" angeworbene Frau können ihre Liebe zueinander verbergen. Ein gemeinsam genossener Trank lässt beide ihre Situation erkennen; sie ist ausweglos.

In heimlicher Liebesnacht von seinen Gegnern aufgestöbert, wird der mutter- und vaterlose Held erneut verletzt. Er selber stürzt sich ins Schwert, um nur noch seinem Traum – der Einheit und Harmonie mit der Welt, dem Ich-Vergessen – zu leben. Die verlorene Seele möchte endlich da ankommen, wo sie immer schon ihre Heimat sah: im Reich der Nacht, im Reich des Todes, imaginiert als Reich der Liebe.

Er kann sich noch einmal retten, um zu erkennen: Ich selber war es, so sagt er, der sich das Elend schuf; ich selber bin, mein ganzes Leben ist die Ursache meines Todes. – Als Isolde endlich kommt, um ihm zu helfen, stirbt Tristan.

Nach Motiven aus dem Programmheft der Oper Frankfurt zu: Tristan und Isolde, Regie: Christoph Nel. Wiederaufnahme in der Osterzeit 2011.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 7 • Auf dem heißen Blechdach

Torben Kessler und Felix von ManteuffelNotlügen lassen sich vielleicht schnell erklären und geraderücken – Lebenslügen klären sich nur unter Krämpfen und Schmerzen. Oft genug ist die Wahrheit, oder was man so nennt, auch mehrdeutig und verworren. Und am Ende eines Lebens ist es vielleicht sogar grausam, mit einer Wahrheit konfrontiert zu werden, deren Verdrängung man die eigene Gesundheit, oder was man dafür hielt, verdankte. – Aber nein, möchte man ausrufen, nichts als die Wahrheit!

In einer Szene, die unter die Haut geht, prallen am Schauspiel Frankfurt Notlüge und Lebenslüge, Vater und Sohn, jung, im Bewusstsein des eigenen Scheiterns, und alt (und wohlhabend, was die Sache aber nur verschlimmert), ohne Bewusstsein davon, direkt aufeinander. Es ist eine herausragende Szene in einem ohnehin intensiven Abend. "Die Katze auf dem heißen Blechdach" zeigt die US-amerikanische Gesellschaft der 1950er Jahre. Aber es sind die Kommunikationsprobleme der Moderne, die dabei im Mittelpunkt stehen. – Der Vater will reden, aber der Sohn weiß schon, dass er wieder nur von sich erzählen will. Der Sohn stimmt zu, wie man rhetorischen Fragen zustimmt, um sich möglichst schnell wieder anderen Dingen zu widmen. In diesem Fall dem Alkohol, um sich der verdrängten Schuld (dem Freund vor dessen Freitod nicht zugehört zu haben) nicht stellen zu müssen. Dazwischen bewegt sich die Frau dieses Sohnes wie eine Katze auf einem heißen Blechdach. Sie ist sich ihrer Gefühle sicher, aber fühlt sich nicht mehr wohl in ihrer Haut, seit sie die Liebe des Gatten verloren glaubt.

Franziska JungeDie Inszenierung findet in einer spektakulären Bühne ein sprechendes Bild für die emotionale Lage der Figuren. Eine Südstaaten-Fassade ist zu einer schrägen Dachfläche geworden, die alle in Bewegung hält. So macht die Bühne und das ‚steile' Spiel, das sie erzwingt, aus einer Redewendung wieder ein reales Verhältnis. Aus einer Metapher, die dem Stück den Titel gab, wird im Frankfurter Bühnenraum eine theatralische Realität. Alles kann ins Rutschen kommen und man weiß nicht genau, ob man am Ende – am Ende des Daches, am Ende des Lebens, oder wenn die Lebenslügen am Ende sind – einen rettenden Boden erreicht.

Tennessee Williams, Die Katze auf dem heißen Blechdach. Inszenierung: Bettina Bruinier. – Neuinszenierung 2011.
Bilder: © Birgit Hupfeld

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 8 • Wer ist Hanna? - Kino - Regie: Joe Wright

Die Adoleszenz, das krisenhafte Geschehen zwischen Kindheit und Erwachsensein, beschäftigt immer wieder das Kino. Denn dieses Thema lässt die Zuschauer unwillkürlich mit den Protagonisten mitfiebern und dabei buchstäblich auch um die eigene Identität fürchten. Wohlige Schauer, Angst und das stellvertretende Miterleben der Größenfantasien der Helden (vgl. Folge 3: Sucker Punch) sorgen für subjektive Dramen, die ein tiefes Kinoerlebnis ermöglichen.

Meistens beginnt das Drama mit der Abspaltung eines stärkeren, potenteren Persönlichkeitsteils, das sich dann stellvertretend für die Hauptfigur emanzipiert und in die Welt der Erwachsenen vorangeht. – Nicht so bei "Wer ist Hanna?", denn diese Hanna – im besten Adoleszenzalter – verlässt zwar ganz klassisch ihr Eltern- oder genauer: Vaterhaus, aber sie trägt die doppelte Identität (Stärke und Schwäche, Kindlichkeit und erwachsene Härte) schon in sich. Das ist ihr großes Geheimnis, dem sie – auch das gehört zum klassischen Drama – selber auf die Spur kommen muss. Sie trägt die beiden Züge des reifen Subjekts als je extreme Varianten in sich: sie ist zart und schwach und ganz offensichtlich der Hilfe bedürftig – UND sie kann für sich selber eintreten und mehr als ausreichend für sich selber sorgen, wenn es darauf ankommt. Stärke und Schwäche sind derart systematisch (oder, wie sich zeigt, intrinsisch und auf der tiefsten Ebene, die wir im Moment kennen) in ihr verwoben, dass sie sich schließlich für eine Variante von sich selbst entscheiden muss.

Saoirse Ronan in "Wer ist Hanna?"Zwei Mal muss Hanna also ihre Befreiung in die Hand nehmen, zwei Mal muss sie sich selber befreien, zu jeder ihrer Identitäten gibt es eine Befreiungsgeschichte. In zwei parallelen Szenen am Anfang und am Ende des Films gelingen ihr diese Kämpfe um Autonomie. Zuerst gelingt die Befreiung aus dem Elternhaus, dann die Befreiung aus einem scheinbar unausweichlichen Geschick, das in ihr selbst und in Form eines Killerkommandos Jagd auf das junge Mädchen macht.

Dem Regisseur gelingt das Kunststück, dass man dieser Hanna und ihrer Geschichte atemlos folgt, dass man um sie bangt, die doch unverletzlich und stark scheint, dass man mit ihr trauert, als sie ihre Geschichte erfährt – und vor allem: sich mit ihr freut, dass sie trauern und mitleiden kann! Denn das war für Hanna ursprünglich nicht vorgesehen, und dieses Mitleid macht auch in diesem Jahr 2011 ganz offenbar den Menschen schlechthin aus. – Hannas Mitleid mit der Kreatur erhebt sie über das Kreatürliche – und macht sie zum Menschen.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 9 • Source Code - Kino - Regie: Duncan Jones

Wie darf man mit Toten umgehen? Rechtfertigt die Rettung Tausender Menschen das Opfer, die ‚Benutzung', ja: die Verdinglichung eines einzelnen Menschen (dagegen hatte sich schon Kant ausgesprochen)? Und wenn dieser eine Mensch nun nicht mehr lebt oder im Koma liegt – wie entscheiden wir uns dann?

Source Code-FilmplakatSchwere und tiefe Fragen stehen im Hintergrund dieses spannenden Films, der Elemente des Action- und des Science Fiction-Kinos verbindet. Interessant wird es schon nach wenigen Sekunden, wenn der Held des Films mit einer anderen Identität in einem Regionalzug vor Chicago erwacht. Eine junge Frau spricht ihn mit einem ihm unbekannten Namen an und im Waschraum zeigt sich ihm im Spiegel ein unbekanntes Gesicht. Bevor er sich über diese Rätsel Gedanken machen kann, explodiert der Zug. Der Zuschauer, der sich zuvor in der Identitätssuche des Helden wohlig gruseln konnte, gerät in einen Sog der erschreckenden Verunsicherung. Im nächsten Bild befindet sich der Held aus dem Zug in einer merkwürdigen dunklen Metallkapsel, die sich zu verändern scheint.

Diese Kapsel – in ihr durchlebt der Held den titelgebenden ‚Source Code', ein Computerprogramm, das die Identität tauscht – stellt, wie sich bald herausstellt, die Bebilderung der unbewussten Eindrücke eines Komapatienten dar. Könnte ein solcher Patient oder Erkrankter sich in einen Raum imaginieren (und wer sagt uns, dass es sich nicht genau so verhält?), so könnte man ihn sich durchaus aus den aktuellen Sinneseindrücken und den verschiedenen, sich überlagernden Erinnerungen zusammengesetzt vorstellen, wie der Regisseur es hier versucht hat. Bilder für unser Unbewusstes zu finden – dieser immerwährenden Aufgabe des Kinos hat "Source Code" eine spektakuläre Variante hinzugefügt. Je nach dem Gesundheitszustand ändert sich für den Mann Kapsel, wird offener oder enger, es läuft Hydrauliköl aus oder es wird kalt.

Der Zustand der Kapsel sei irrelevant, sagen dem Protagonisten die Manager des Source Code, aber das kann ihn naturgemäß nicht beruhigen. Erst als er seine Lage erkannt hat, beruhigt er sich. Erst als er sich die Aussichtslosigkeit seiner subjektiven Existenz offen eingesteht, ergreift er die einzige Chance, die er noch hat: in der neuen Identität, die ihm der Source Code verleiht, in seinem ‚eigenen', früheren Leben reinen Tisch zu machen. Auf der Ebene des Source Code opfert er sich endgültig – und rettet zahllosen Menschen das Leben. Auf der Ebene seines eigenen Lebens gewinnt er seinen Seelenfrieden zurück. – Und kann in Frieden sterben, müsste es hier eigentlich heißen, aber – so viel sei verraten – der Source Code, von einem renommiersüchtigen, machthungrigen verrückten Professor gesteuert (im Film mit viel Humor geschildert), funktioniert nicht wirklich perfekt.

Die Antworten des Films auf die oben aufgeworfenen Fragen sind sozusagen fiktiv. Denn der komatöse Held des Films kann über seine Wünsche und Bestrebungen befragt werden. Er entscheidet sich frei für die minimalen Handlungsoptionen, die ihm der Source Code bietet. Vieles geht dabei schief, aber die ihm so wichtige Versöhnung gelingt. Im Umkehrschluss kann das aber nur heißen, dass Kants Vorschlag maßgeblich bleibt: Benutze andere Menschen nie als Mittel (zum Zweck), immer nur als Zwecke in sich selbst.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 10 • The Tree of Life - Kino - Regie: Terrence Malick

Schuld und Vergebung

Über diesen Film ist seit seiner Vorführung dieses Jahr in Cannes schon viel geschrieben worden. Der Film lässt wohl niemanden unberührt, vielleicht aber bleibt mancher ratlos im Kinosessel zurück. Aber vielleicht ist der Film auch gar nicht darauf angelegt, vollständig verstanden, zu 100 Prozent rationalisiert zu werden. Es sind nicht die schlechtesten Filme, die uns bewusst in ein Zwischenreich, eine Art von vorbewusster Wahrnehmung führen, und deren ästhetischer Gehalt nicht in den (narrativen) Formen des traditionellen Erzählkinos aufgeht.

The Tree of LifeNur zwei Aspekte sollen herausgegriffen sein. Zum einen erscheinen die zumeist kurzen Szenen des Films oft nur angeschnitten, ohne klaren Fokus, ohne Hauptperson oder klar abgrenzbarer Handlung. Durch diesen besonderen Schnitt entsteht ein ästhetischer Effekt, der an die individuelle Erinnerung gemahnt. Und der Film gleicht, obgleich er durch und durch als künstlerisches Produkt erkennbar ist, einer Dokumentation: Leute laufen aus dem Bild, Protagonisten sind von hinten zu sehen, das Bild bricht mitten in einer Bewegung ab oder die Kamera bleibt noch da, wenn das Gezeigt schon beendet und aus dem Ausschnitt verschwunden ist. Durch diese kurzen Bilder und ihre extrem kunstvolle Sequenz wirkt der Film wohl sehr tief ins Unbewusste hinein und es stellt sich eine Art von innerer Nacherzählung und Spiegelung des Geschehens ein, dem man sich schwer entziehen kann. Immer wieder kommt es zu direkten Traumbildern, etwa wenn eine Geburt mit der Vision eines in einem komplett gefluteten Haus schwimmenden Kindes kombiniert wird. Die Wirkung dieses Verfahrens ist zunächst einmal auf der sichtbaren Oberfläche des Filmes zu sehen, aber indem eine innere Miterzählung angeregt wird, geschieht auch etwas mit dem Subjekt des Zuschauers. Trotz seiner Länge erscheint die Filmzeit voll gefüllt, es fällt kein überflüssiges Wort, das Ende ist kein richtiges Ende. Aber das ist natürlich nur konsequent, insofern jede einzelne Szene in diesem Sinne ‚endlos' ist.

Zum anderen stellt der Film fragen, die um das Wirken Gottes in der Welt kreisen. Das geschieht sogar mit biblischen, zumal alttestamentarischen Zitaten. Der jüngere Sohn der Familie kommt ums Leben, und die Protagonisten suchen nach ihrer eigenen Schuld, nach der Stelle, wo sie sich versündigt haben am Leben des Sohnes und Bruders. Sie hoffen auf Vergebung – und der Film findet dafür wunderbare Bilder, für die Hoffnung, in einem anderen Leben die toten Angehörigen noch einmal umarmen und sich mit ihnen verständigen zu können. Die Menschen müssen – ganz wie Luther es lehrte – auf eine Gnade ohne eigene Sühne hoffen, denn die Toten sind tot und man kann an ihnen nichts wieder gut machen. So scheint es auch in der Welt der Menschen, die Gerechtigkeit und Erbarmen kennt, nach gewissen Gesetzmäßigkeiten abzulaufen. Die eigenen Gesetze des Naturreiches werden in einem langen Mittelteil des Filmes vorgeführt. Beide Reiche, so grundverschieden sie sind, ruhen nach Aussage des Filmes in Gottes Hand. Die Schöpfung durch Evolution – festgehalten in suggestiven, berauschenden Bildern – ist eine Tat Gottes. Und scheint nicht selbst da die Gnade auf? Verschont der eine Saurier nicht den ihm ausgelieferten Artgenossen? – Oder ist das nur eine Suggestion unserer menschlichen Wahrnehmung? Schon möglich, aber wenn es so wäre, hieße das immerhin: wir sind des Erbarmens fähig.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 11 • Im Büro mit Ai Weiwei - Museum für Moderne Kunst MMK

Große Überblicks-Schau im MMK, MMK Zollamt und in einem ehemaligen Bürohaus der Degussa (Main Tor)
Baustelle? Auch. – Marketing? Ja ja. – Museum? Sicher!

Leicht verunsichert betritt man ein Areal, das durch und durch einen vergangenen architektonischen Geist atmet und sich nur durch eine einzige auffällige Kennzeichnung als "MMK" – Museum für Moderne Kunst ausweist. Man kann also sicher sein, dass es hier langgeht. Ein schöner, grüner Innenhof empfängt einen, in Sichtweite von teildemontierten Fassaden geht es vorbei an Plakaten mit sehenswerten Neubauprojekten, die unter anderem versprechen, die Abschottung des Degussa Areals zu beenden und die historischen Durchgänge zwischen dem Main und der Innenstadt wieder herzustellen. Das Gelände am Maintor soll also – so die Werbung der Projektentwickler – wieder zu einem integralen Bestandteil der Stadt werden, die Lücke zwischen Theater und dem Karmeliterkloster soll stadtplanerisch wieder geschlossen werden.

MMKSoweit ist es noch nicht und der Weg endet an einem weiteren Bauzaun. Nun geht es links über eine Treppe zum Eingang der Schau "20 Jahre Gegenwart". Sie ermöglicht einen neuen, faszinierenden Blick auf zum Teil bereits bekannte Objekte aus der Sammlung des Frankfurter Museums. Viele konnten aber noch nie oder lange Zeit nicht mehr gezeigt werden, weil der Platz fehlte. In einem nüchternen ehemaligen Bürogebäude der Degussa entsteht nun aus dem Gebäude und den Objekten eine ganz besondere Spannung.

Die kleinen und mittelgroßen ehemaligen Büroräume (Raumkonzept von Prof. Christoph Mäckler) zerstören einerseits die museale Aura, soweit sie aus den großen Sälen und den weiß gestrichenen Wänden resultiert. Andererseits aber stehen die Objekte, die meistens einzeln in einem Raum Platz finden, monumental ganz für sich selbst. Und die Besucher sind zu einem (inneren) Dialog mit den Kunstwerken geradezu gezwungen – es ist sonst niemand da, die Objekte laden sozusagen in ihre jeweils eigenen Räume ein. Dieser Effekt, der Monumentalität und Intimität auf eigensinnige Weise verknüpft, tritt auch bei gut gefülltem Haus ein: die Besucher verteilen sich schnell auf den 6 Etagen. Auch ist nicht immer auf Anhieb klar, welche Tür noch zu weiteren Ausstellungsräumen führt und welche auf die beginnende Baustelle. Es gibt keinen Einheitsweg.

Die direkten Begegnungen mit den Kunstwerken, wie sie die kleinen Räume möglich machen, fördern die Auseinandersetzung und – das kann man sich nach einem intensiven Rundgang jedenfalls einbilden – das Verständnis. Viel leichter als in einem Museumssaal ist ein kurzer Gedankenaustausch der Besucher untereinander möglich, zu dem die Objekte einen "auf Augenhöhe" ja auch herausfordern. Es entsteht ein Bild unserer Gegenwart, das mit uns selbst eng verknüpft erscheint, das uns nahe rückt und uns nahe geht, uns angeht. Aber es entsteht hier nicht qua Autorität und nicht als geschlossenes Bild, sondern im Dialog mit den Besuchern.

Das alles wäre noch nicht so, wie es ist, wären da nicht die fulminanten Objekte. Ein Wiedersehen gibt es unter anderem mit den Pinguinen von Balkenhol und den bemalten/unbemalten Vasen von Ai Weiwei und Serge Spitzer, um nur diese zu nennen. Auch das Museumscafé ist ein Kunstwerk. Weitere Ausstellungsteile finden sich im Hauptgebäude des Museums und seiner kleinen Depandance, dem Zollamt.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 12 • Bedrängende Rhythmen – die Sängerin Anna Calvi in der "Brotfabrik"

Das aus dem Frühjahr 2011 nachgeholte Konzert der britischen Sängerin und Komponistin Anna Calvi am 12. August 2011 in der Brotfabrik in Frankfurt-Hausen war lange ausverkauft. Längst ist die Sängerin mit dem mystischen Timbre und der ganz und gar eigenen Handschrift kein Geheimtipp mehr – eine eigenständige Stimme, die noch dazu das Zeug zur Popularität hat, ohne den Mainstream und seine Fertigwaren zu bedienen, fällt eben auf. Eine große Besprechung des Albums mit dem Titel "Anna Calvi" in der FAZ, eine Konzertübertragung auf arte – mit dieser positiven Medienpräsenz war vorab für eine entsprechende Aufmerksamkeit und gespannte Erwartung gesorgt.

Anna CalviAnna Calvi tritt mit ihrer Gitarre und ihrer Stimme an, begleitet wird sie von einem Schlagzeuger und einer Percussionistin, die auch Harmonium spielt. Eine lange Einleitung an der Gitarre bringt so viele Stimmungswerte in die Halle, dass eine enorme Spannung in der Luft liegt. Mit viel Geduld und absoluter Kontrolliertheit webt Calvi Akkord um Akkord einen immer dichteren Klangteppich, der schließlich mit so viel Emotionen geladen ist, dass schließlich der ungebändigte Rock (der zuweilen auch nach Country klingt) aus ihm hervorbrechen kann. Die einzelnen Entladungen werden durch die Alt-Stimme der Sängerin immer wieder unterbrochen und die Tonlage der Balladen bleibt stets sehr verhalten, dabei aber hintergründig und emotional. Anna Calvi gibt Edith Piaf als eines ihrer Vorbilder an – vielleicht hat sie von ihr die Ökonomie des stimmlichen Ausdrucks und die Intensität, das Drängende des Duktus'.

Anna Calvi in concertWenn sie sich einmal freigesungen hat und einer der musikalischen Ausbrüche großer Dynamik erfolgt, ahnt man, welch vulkanische Kraft hier schlummert. Der Eindruck verstärkt sich noch, weil den Liedern praktisch immer, von ganz wenigen Ausnahmen und den Einleitungen der Balladen abgesehen, ein drängender, regelrecht treibender Rhythmus unterlegt ist. Eine mühsam zurückgehaltene Grundaggressivität, nicht unangenehm, aber spürbar, begleitet den Abend. Selbst in einem durchweg langsamen, nachdenklichen Song wummert eine tiefe Trommel wie ein Herzschlag. Hier lebt etwas unerkannt unter der Oberfläche, das eine zweite Ebene einführt, die von der Sängerin anscheinend gar nicht bemerkt wird. Die Musik wird zu einer doppelten Wahrnehmung von Spannung und Erlösung, zu einer Art von offenem Betrug, der dann logischerweise keiner mehr sein kann. "Ich warte auf Gott, er soll auf mich hereinfallen", singt sie (im Original in Englisch), "ich warte auf Liebe, sie soll mir verfallen, aber es kommt der Teufel." Mit Worten der Hingabe wird gerade vom anderen, vom Gegenüber, Hingabe eingefordert. Dieser Spagat ruft nicht nur den Teufel herbei, er gebiert Schimären: "Meine Sehnsucht ist so stark, ich sehe Gesichter im Dunklen." Der unbedingte Wille spiegelt sich in den drängenden Rhythmen – die eine Liebessehnsucht dementieren, die doch das eigentliche Ziel des Willens sein soll. Das untergründig Paranoide, die objektive Unmöglichkeit von Glück und Erlösung, die Auflösung der Persönlichkeit ("Hier in der Dunkelheit könnte ich jeder beliebige sein") – die Musik weiß davon zu erzählen, während sich die Sängerin noch dagegen stemmt. Je länger sie flieht, desto unmöglicher ist das Entkommen.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 13 • Theaterfest in Frankfurt – Tag der Offenen Tür an der Oper und am Schauspiel Frankfurt am 25.09.2011

Oper und Schauspiel haben in diesem Jahr wieder einmal gemeinsam zu einem Fest eingeladen. Für die ganze Familie sollte es sein, und die Veranstaltung ist diesem Anspruch mehr als gerecht geworden. Bei freiem Eintritt tummelte sich eine bunte Mischung von Besuchern in den weiten Räumen und (weiß Gott: sehr, sehr langen!) Gängen ‚hinter den Kulissen'. Stammbesucher, die ‚ihr' Theater und ‚ihre' Oper feiern wollten, fand man ebenso, wie Menschen, die zum ersten Mal im Musik- oder Sprechtheater waren. Ganz sicher haben sich auch einige der vielen, vielen Kinder anstecken und begeistern lassen. Schauspiel und Oper wurden von den Interessenten regelrecht überrannt.

Um 11 Uhr ging es los, und eine öffentliche Orchesterprobe der Ouvertüre zur "Zauberflöte" im Opernsaal war ein erster Höhepunkt. Auf welchem Niveau hier in Frankfurt eine Wiederaufnahmeprobe abläuft (die "Zauberflöte" steht ab dem 16. März 2012 wieder auf dem Spielplan), das ließ sich in den rund 20 Minuten gut ermessen. An vermeintlich winzigen Details der Phrasierung und den Zurücknehmens von Tutti-Klängen wurde gefeilt – und das Ergebnis unterschied sich schließlich deutlich vom ersten Durchlauf. Nach dieser lehrreichen halben Stunde konnte man sich auf einem Rundgang über die Opernbühne und weiter in die diversesten Probenräume und Handwerkersäle an Schaueffekten erfreuen. Die schiere Größe und Höhe der Bühne ist allein schon eindrucksvoll. In den rückwärtigen Probebühnen und Räumen lief dann etwa im Stundentakt ein vielfältiges Programm für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ab. Operninszenierungen konnten geraten werden, Jugendliche konnten bei einer professionellen Bühnenkampf-Trainerin einen Workshop belegen, offene Proben und Einblicke in laufende Produktionen, schließlich war bei einer Regie-Arbeit Mithilfe und Einmischen gefragt. Die aktuelle "Oper für Kinder: Tosca" lief mehrfach – und fand ein begeistertes Publikum von vier bis (geschätzt) 80 Jahren. Es ist auch für erfahrene Opernbesucher ein tolles Erlebnis, die Sänger so dicht vor sich und in einem eher kleinen Raum zu hören, wie es eben bei der "Oper für Kinder" möglich war.

Faszinierende Einblicke in die Arbeit an einem Bühnenbild boten sich im Malersaal. Neben den Modellen der Bühnenbilder aktueller Inszenierungen waren jeweils die Konstruktionspläne aufgehängt. Noch das komplizierteste Bühnenbild wird in der Werkstatt rückwärtig aus Standardteilen zusammengesetzt und dann künstlerisch komplettiert. Wer wollte, konnte sogar schon einen Teil des Bühnenbodens für den neuen "Siegfried" bewundern. Anzuschauen waren auch die großen Plastiken für "Murder in the Cathedral". Nach dem Gang über die große Bühne konnte man nun erst recht ermessen, welche Arbeit im Großen und im Kleinen in den vielfältigen Kulissen in Oper und Schauspiel steckt.

Das Potential einer modernen Bühne wurde im Schauspiel während der "Technikshow" anschaulich. Einen Eindruck von der geradezu unglaublichen Wandlungsfähigkeit eines Schauspielers bot sich während des der realen Situation eng nachempfundenen "Öffentlichen Vorsprechens" im Kammerspiel. Während das Publikum noch darüber grübelte, was Intendant Oliver Reese mit seinen spontan-situativen Änderungswünschen meinen könnte, hatte der Schauspieler Oliver Kraushaar daraus bereits eine überzeugende Sprechhaltung abgeleitet. Und schon ging es weiter, im Minutentakt änderten sich Tonfall, Mimik und Gestik, im Minutentakt stellte Kraushaar damit jeweils einen anderen Menschen dar, mit einer komplett anderen Vorgeschichte… Sehr eindrucksvoll!

Eine schönere Einladung ins Theater, eine schönere Einladung in die Oper, als dieses Fest, ist gar nicht denkbar!

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 14 • Zwei Mal Expressionismus: "Die Wildente" und "Die andere Seite" am Schauspiel Frankfurt

Kulturfonds Frankfurt"Phänomen Expressionismus" heißt das Epochenprojekt, mit dem der Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main die Region verbindet. Und der Expressionismus könnte auch die Klammer sein für zwei sehenswerte Neuinszenierungen am Schauspiel Frankfurt.

 

DIE WILDENTE

Im großen Haus spielt "Die Wildente" von Henrik Ibsen in einer Bühne, die Karussell, Varieté (mit großer Showtreppe) und Kino zugleich ist. Ein rotes Herz leuchtet an der Spitze, hier lebt die Wildente und das ist der eskapistische, weltflüchtige Ort des Dramas. Das rote Herz über der Bühne steht für große Versprechungen und Erwartungen – aber das Ganze ist eine Scheinwelt von Anfang an. Hjalmar Ekdal (Thorben Kessler) hat sich in dieser Scheinwelt eingerichtet, ohne zu bemerken, wie sehr alles, was er hat, von dem etwas unheimlichen, mächtigen Direktor Werle abhängt. Dessen Sohn Gregers ist auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, nach Sinn schlechthin, den er als sich autonom wähnendes Subjekt nicht mehr aus der Tradition – der Familie, des Berufes des Vaters, der Konventionen überhaupt – gewinnen kann. Gregers möchte nun seinen alten Freund Hjalmar über dessen (Hjalmars) wahre Identität und den Urgrund seines Lebens aufklären. Diese Aufklärung ist für Gregers eine Art Spiel, jedenfalls eine Form der Selbstbefriedigung, die das Glück der anderen nicht bis zum Ende mitbedenken will. Auch Gregers ist also in der Scheinwelt gefangen, die die Bühne so genial auf den Punkt bringt.


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Nur eine Figur, um die sich am Ende alles dreht, nimmt die Scheinwelt ernst: Hjalmars Tochter Hedwig – das kann nicht gutgehen. Die Schauspieler agieren im Stile des expressionistischen Stummfilmes, sie tragen die Emotionen bewusst nach außen und verflechten sich gestisch und sozusagen emotional miteinander. Konsequent ist der Direktorssohn Gregers mit einer Frau besetzt, Sinnbild der Anziehungskraft und inneren Stärke dieser vielschichtigen, zerrissenen Figur (Lena Schwarz). Die letzte Aussprache zwischen Gregers und Hjalmar, von Gregers für den Freund als Durchbruch zur Wahrheit über sich selbst vorgesehen, wird als Texteinblendung wie in einem Film von Fritz Lang inszeniert, die Schauspieler vollführen die großen Gesten, die zu einer dramatischen Szene ohne Ton gehören. In diesem Jahrmarkt des Lebens, in dem es längst nicht mehr um "Wahrheit" geht, kommt nur einer zur Strecke: das Kind, das das alles viel zu ernst nimmt.

 

DIE ANDERE SEITE

Wird die drastische Doppelbödigkeit Ibens in der "Wildente" sozusagen als Vorgriff auf den Expressionismus gelesen, so springt das Stück nach dem phantastischen Roman Alfred Kubins "Die andere Seite" mitten hinein in den echten Expressionismus. Die Aufführung des "Schauspiel Studio" wird vom erwähnten Kulturfonds gefördert. Wer skeptisch ist, wenn Romane auf die Bühne gehoben werden, sollte sich diese Inszenierung erst Recht anschauen. Denn der Regisseur Christopher Rüping verwebt Szenen aus den autobiographischen Skizzen Kubins mit dem Roman, so dass die Einladung eines alten Freundes in die neu gegründete Stadt "Perle" plausibel wird.

Das unstete des Lebens hat sich vor der Einladung als innere Unruhe der Schauspieler auch dem Publikum mitgeteilt, das zudem mehr schlecht als recht vor der Box des Schauspiels kauert. Dann ergeht die Einladung in das merkwürdige Traumreich – und alle wollen hin; es beginnt der große Run auf die nicht nummerierten Plätze in der Box. Der alte Freund des Autors, Patera, würde milde lächeln über den Eifer Kubins und der Zuschauer, nun endlich an der Utopie im fernen Urwald zu partizipieren. Die Utopie wird zur Schreckensvision, Patera ist unsichtbar, mumiengleich, unantastbar aber auch unnahbar. Er scheint allwissend, aber uninteressiert an den lebensnotwendigen Details. Sein Reich wird folgerichtig aus den Vitrinenschränken eines anatomischen Kabinetts zusammengesetzt.

Alles endet als Alptraum, wobei die Dramatisierung die schlimmsten Auswüchse des Romans nur andeutet. Die drei Schauspieler verwandeln sich in alle Figuren, vor und nach der Einladung sind sie alle Kubin, seine Frau, dann Patera und alle weiteren Figuren. Schlag auf Schlag wechseln sie sich ab, verstellen die Stimme, die Gesten, die gesamte Motorik. Der bewusst überzeichnete, leerlaufende Mummenschanz ist ein exakter Spiegel der grotesken Romanhandlung. Das ist sehenswert und sinnfällig. Die Requisiten und Kostüme werden aus den musealen Kisten gezogen, die das verfallende Traumreich darstellen. Alles zusammen führt zu einem ständigen Wandel und ständiger Veränderung, die schließlich in Demontage endet und die das Gefühl der Ortlosigkeit und Verlorenheit spiegeln und anschaulich machen, die Menschen empfinden können. Der depressive Charakter des vermeintlichen Traumreiches wird anschaulich und mit Händen greifbar.

© Oliver Ramonat 2011

 

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Folge 15 • "Sleepless in my Dreams" im Schauspiel Frankfurt

Regie: Pedro Martins Beja, Text: Gerhild Steinbuch

Schauspiel FrankfurtDas Stück, gespielt von drei völlig überzeugenden Darstellern des Schauspiel-Studios, verwebt die Handlung mehrerer Märchen mit den psychologischen Deutungen der Vorlagen. Dabei steht das "Dornröschen" im Zentrum und gibt ganz zu recht den Titel des Stückes. Hier kreist alles um die zwei Leben, die das Dornröschen führen darf – vor und nach dem langen Schlaf.

Der Schlaf trennt ja nicht nur die vorpubertäre Welt von der erwachsenen Welt, sie trennt auch die Angst vor der sexuellen Reife und die Angst vor der Verantwortung des Erwachsenen von der Welt des jugendlichen Kindes, das zwischen allen Stühlen sitzt – und eben in den Schlaf flieht.

Hier ist auch die Einfallschneise für die Gesellschaftskritik, die das Stück kennzeichnet, und die pubertierende Unzufriedenheit mit einer Wirklichkeit, die von den Figuren des Stücks als Fassade durchschaut wird. Wir leben so vor uns hin, alles ist unwahr, alles Gesagte eine Lüge. Man müsste mal aufräumen damit und die Wahrheit sagen, das ungeschminkte, ungeschützte Leben leben, nicht nur immer von da nach dort und wieder zurück. Ein Unwohlsein an einer durchorganisierten Welt, die innerlich längst kaputt ist, so glauben die drei. Wenn wir uns nicht immer weiter bewegen, fallen wir von dieser Erde herunter. Sinnbild sind die "7 Zwerge", die in ihrer nie erlahmenden Betriebsamkeit ein Exempel der leerlaufenden Falschheit darstellen. Auch hier mischen sich wieder sexuelle Fantasien und Ängste vor der eigenen Courage.

Die Figuren stellen nicht nur diese Welt und unsere Sprache, sie stellen auch sich selbst immer in Frage. Denn sie finden den Anfang des Märchens nicht, zu dem sie zurück wollen. Das heißt: sie finden den Sinn nicht, er verliert sich im Unsagbaren, wie sich das "wahre Leben" eben doch (zumindest: auch) in Routinen und einem sinnhaften Alltag findet. Zu spät erkennen sie die ganz reale Gefahr, in die sie sich mit ihrer Suche nach dem Anfang, dem Sinn vor aller Sprache begeben. Nicht die Welt unter der Welt, die geheime Stadt unter der "toten Stadt" ist die Gefahr; gefährlich ist der Verlust jeglicher Zivilisation. Das "Röschen" wird zum Wolf, vor dem es sich immer gefürchtet hatte; zieht man das Kostüm der Zivilisation weg, weil man es für falsch hält, bleibt: das Tier im Menschen. Was kann die Sprache?

Ach, wie gut hat es doch das Dornröschen, dass es dieser Falschheit durch Schlaf sich entziehen und in einer richtigen Welt erwachen kann! Der Prinz kommt, erweckt es, und die ganzen Kämpfe des Erwachsenwerdens, mit ihren Kompromissen, Halbheiten und seiner Melancholie, die eben nicht zur Depression wird, diese Kämpfe kann es sich sparen. – Was aber träumt das Röschen, wenn es schläft? Diese Frage wird unabweisbar und die Antwort ändert alles. – Wenn ihr Schlaf ein Albtraum wäre?

© Oliver Ramonat 2013

 

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